Pflege in Indonesien: Überfluss, Mangel und Abwanderung – Ein Blick auf eine paradoxe Situation

0

Indonesien, das mit über 270 Millionen Einwohnern viertbevölkerungsreichste Land der Welt, steht vor einer komplexen Herausforderung in der Gesundheitsversorgung: Ein scheinbarer Überfluss an qualifizierten Pflegefachkräften geht einher mit einem gleichzeitigen Mangel an beschäftigten Pflegefachkräften im heimischen Gesundheitssystem. Die daraus entstehende Paradoxie wirft Fragen zu Arbeitsmarktpolitik, internationaler Anwerbung und ethischen Dilemmata auf.

Dabei betrachte ich die Anwerbung von Pflegekräften aus anderen Ländern stets kritisch. Wenn Industrieländer – darunter auch Deutschland – Fachkräfte abwerben, entziehen sie den Heimatländern oft die dringend benötigten Ressourcen. Im Fall Indonesiens ist die Situation jedoch besonders, weil der Markt nicht alle ausgebildeten Pflegefachkräfte absorbieren kann, was den Fachkräften im Land nur begrenzte Perspektiven bietet.

Überschuss an ausgebildeten Pflegefachkräften

Indonesien produziert weitaus mehr Pflegekräfte, als der heimische Arbeitsmarkt aufnehmen kann. Statistiken belegen dies eindrücklich:

• Bereits 2018 standen 695.248 qualifizierte Pflegefachkräfte zur Verfügung, von denen jedoch nur 446.428 tatsächlich beschäftigt waren.

• Dies führte zu einem Überangebot von mehr als 219.000 Pflegekräften im Jahr 2018.

• Die jährliche Ausbildungskapazität wuchs rasant: Von 34.000 Absolventen im Jahr 2008 stieg die Zahl bis 2019 auf 138.206 pro Jahr.

Gleichzeitiger Mangel im Gesundheitssystem

Trotz des Überangebots sind die in indonesischen Kliniken und Gesundheitseinrichtungen beschäftigten Pflegefachkräfte nicht ausreichend, um den Bedarf zu decken:

• Mit einem Verhältnis von 1,3 Pflegekräften pro 1.000 Einwohner liegt Indonesien unter dem WHO-Idealwert von 1,58 und dem nationalen Richtwert von 1,8 Pflegekräften pro 1.000 Einwohner.

• Um diese Zielvorgaben zu erreichen, fehlen zwischen 75.000 und 135.000 Pflegekräfte.

Hintergründe der paradoxen Situation

1. Begrenzte Arbeitsmarktaufnahmekapazität: Der Gesundheitssektor hat nicht genügend Stellen, um alle ausgebildeten Pflegekräfte zu beschäftigen.

2. Ungleiche regionale Verteilung: Während es in einigen Regionen eine Konzentration von Pflegefachkräften gibt, sind andere Landesteile massiv unterversorgt.

3. Budgetbeschränkungen: Besonders in strukturschwachen Regionen fehlt es an finanziellen Mitteln, um mehr Pflegefachkräfte einzustellen.

4. Fehlende Gesundheitseinrichtungen: Ein Mangel an Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen verhindert die Vollbeschäftigung vieler Pflegekräfte.

Lösungsansätze und internationale Kooperationen

Indonesien setzt auf mehrere Strategien, um dieses Problem zu bewältigen:

Entsendung ins Ausland: Die Regierung fördert die Abwanderung von Pflegefachkräften, um den heimischen Arbeitsmarkt zu entlasten und durch Rücküberweisungen wirtschaftliche Vorteile zu erzielen.

Internationale Anwerbungspartnerschaften: Länder wie Deutschland haben Kooperationsvereinbarungen getroffen, um den Fachkräftemangel durch indonesische Pflegekräfte zu bekämpfen. Doch solche Maßnahmen sind nicht unproblematisch.

Ich finde es kritisch, wenn reiche Länder qualifizierte Pflegefachkräfte aus ärmeren Ländern abwerben. Im Fall Indonesiens wird allerdings eine besondere Dynamik deutlich: Der Arbeitsmarkt kann nicht alle verfügbaren Fachkräfte aufnehmen, sodass der Gang ins Ausland von Pflegefachkräften für die Betroffenen oft die einzige Möglichkeit ist, beruflich voranzukommen.

Verbesserung der Verteilung im Inland: Parallel dazu gibt es Bemühungen, die Pflegefachkräfte gleichmäßiger im Land zu verteilen, damit ländliche Regionen besser versorgt werden.

Ein Balanceakt zwischen nationalen und internationalen Interessen

Die Entsendung von Pflegekräften ins Ausland ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits bietet sie berufliche Perspektiven und wirtschaftliche Vorteile für Indonesien, andererseits trägt sie zum Problem des „Braindrains“ bei. Das bedeutet, dass qualifizierte Kräfte dem heimischen System verloren gehen – ein Verlust, den das Land auf lange Sicht schwer kompensieren kann.

Es bleibt also eine Herausforderung, die Interessen aller Beteiligten zu berücksichtigen: den Bedarf der Zielländer, die Wünsche der Pflegefachkräfte und die Entwicklungsperspektiven Indonesiens.

Indonesien zeigt damit eindrucksvoll, dass die internationale Anwerbung von Pflegefachkräften keine einfache Lösung für den globalen Fachkräftemangel ist, sondern differenziert betrachtet werden muss. Es braucht langfristige Lösungen, die sowohl die Fachkräfte als auch die Versorgungssysteme in den Herkunfts- und Zielländern berücksichtigen.

Dieser Artikel soll aufzeigen, dass wir in der Diskussion um internationale Pflegeanwerbung nicht nur die Quantität von Fachkräften im Auge behalten sollten. Vielmehr geht es darum, nachhaltige Lösungen zu finden, die den Anforderungen der Zielländer gerecht werden, ohne die Gesundheitssysteme der Herkunftsländer zu schwächen. Die Situation in Indonesien verdeutlicht, dass es keine Patentlösung gibt – umso wichtiger ist es, das Thema mit Weitblick und Verantwortungsbewusstsein anzugehen.

Und auch in Deutschland darf die Anwerbung oder besser Abwerbung von Pflegefachkräften auch nicht die einzige Maßnahme zur Verbesserung der langfristigen Pflegesituation sein. Hier spielt die Digitalisierung sicher eine bedeutende Rolle und auch hier sollte gerade in der außerklinischen Pflege mehr finanzielle Förderung durch die Politik erfolgen. Denn auch die Rahmenbedingungen in der Pflege bestimmen maßgeblich, ob der Pflegeberuf in Zukunft wieder mehr Attraktivität erhält.

Kommentar verfassen