Digital Health: Lektionen aus dem Scheitern von Google und Amazon – und warum KI jetzt alles ändert – vielleicht auch für die ePA

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Das gebrochene Versprechen der digitalen Gesundheit

Jeder, der schon einmal versucht hat, seine medizinischen Unterlagen von verschiedenen Ärzten und Krankenhäusern zusammenzutragen, kennt die Frustration. Laborergebnisse sind in einem Online-Portal gefangen, der Bericht des Facharztes liegt als Fax vor und die Impfhistorie ist ein vergilbtes Stück Papier. Es ist ein chaotisches System, in dem der Patient, dessen Gesundheit auf dem Spiel steht, am wenigsten Kontrolle über seine eigenen Daten hat. Ja ich weiß, all das sollte ja eigentlich schon längst die elektronische Patientenakte (ePa) leisten.

Bereits vor über einem Jahrzehnt schien die Lösung zum Greifen nah. Technologie-Giganten wie Microsoft und Google betraten die Bühne mit einem kühnen Versprechen: Sie wollten die verstreuten Puzzleteile unserer Gesundheitsgeschichte in einer einzigen, sicheren digitalen Akte zusammenführen, die uns die Kontrolle gibt. Der Optimismus war riesig. Doch die Projekte – Microsoft HealthVault und Google Health – scheiterten spektakulär und landeten auf einem wachsenden Friedhof digitaler Gesundheitsinitiativen, auf dem später auch Amazon seinen Platz fand.

Was ist schiefgelaufen? Warum konnten die mächtigsten Technologieunternehmen der Welt dieses offensichtliche Problem nicht lösen? Die Antwort liegt in einer Reihe fundamentaler Fehleinschätzungen über das Gesundheitswesen und die menschliche Natur. Doch heute, ein Jahrzehnt später, verändert in den USA eine mächtige neue Kombination aus staatlicher Regulierung und künstlicher Intelligenz die Spielregeln von Grund auf und gibt dem alten Versprechen eine zweite, weitaus vielversprechendere Chance.

Die 5 wichtigsten Erkenntnisse

1. Der Friedhof der guten Vorsätze: Warum die Tech-Giganten scheiterten

Die Liste der gescheiterten Projekte liest sich wie ein „Who is Who“ der Technologiebranche. Microsoft stellte sein HealthVault 2019 ein. Google Health brach bereits 2011 zusammen. Und Amazon beerdigte seine gesamte Halo-Wearables-Sparte 2023. Alle hatten das Ziel, die persönliche Gesundheitsverwaltung zu revolutionieren, und alle scheiterten aus drei zentralen Gründen:

  • Mangelnde Kooperation des Gesundheitssystems: Die Tech-Unternehmen kontrollierten nicht die Quelle der Daten – die Krankenhäuser und Arztpraxen. Das US-Gesundheitssystem war (und ist) extrem fragmentiert, und viele Anbieter weigerten sich schlichtweg, Daten preiszugeben. Diese Praxis, bekannt als „Informationsblockade“, machte die Plattformen zahnlos, da die Nutzer ihre Daten nicht einfach und automatisch importieren konnten.
  • Fehlender wahrgenommener Wert für Patienten: Im Gegensatz zu Banking- oder Social-Media-Apps ist die Verwaltung von Gesundheitsdaten für die meisten Menschen keine tägliche Notwendigkeit. Der Aufwand, alte Unterlagen manuell hochzuladen und zu pflegen, stand in keinem Verhältnis zum Nutzen. Ohne automatisierte Datenflüsse und klare, umsetzbare Vorteile blieb das Engagement der Nutzer aus.
  • Vertrauensprobleme: Wer profitiert von meinen Daten? Diese Frage stand wie ein Elefant im Raum, insbesondere bei Google, dessen Geschäftsmodell auf Werbung basiert. Trotz aller Datenschutzversprechen blieb die Skepsis groß. Die Projekte konnten eine einfache, aber entscheidende Frage nie überzeugend beantworten:

Why should patients trust a tech company more than their doctor?

2. Die kontraintuitive Wahrheit: Patienten wollen keine Akten verwalten

Die grundlegende Idee eines „digitalen Aktenschranks“ für Gesundheitsdaten war fehlerhaft. Die Tech-Unternehmen gingen davon aus, dass Patienten eifrig die Rolle von Archivaren ihrer eigenen Krankengeschichte übernehmen würden. Doch die Realität ist eine andere. Gesundheit ist für die meisten Menschen ein episodisches Thema, kein tägliches Management-Projekt.

Anders als bei einer Banking-App, die man mehrmals pro Woche nutzt, um Rechnungen zu bezahlen oder den Kontostand zu prüfen, bieten statische Gesundheitsakten keinen unmittelbaren, dynamischen Mehrwert. Die Erkenntnis aus diesen Misserfolgen ist tiefgreifend: „Electronic medical records are an extremely small part of the overall picture of a person’s health today.“ Sie werden in den USA hauptsächlich für Abrechnungszwecke geführt, nicht zur Optimierung der Gesundheit. Der wahre Bedarf liegt nicht in der reinen Datenspeicherung, sondern in umsetzbaren, intelligenten Erkenntnissen, die im richtigen Moment geliefert werden.

3. Der unwahrscheinliche Held: Wie staatliche Regulierung die Türen öffnet

Jahrelang bissen sich die Tech-Giganten an den Datensilos des Gesundheitssystems die Zähne aus. Der Wendepunkt kam nicht aus dem Silicon Valley, sondern aus Washington, D.C. Mit dem „21st Century Cures Act“ schuf die US-Regierung eine gesetzliche Grundlage, die „Informationsblockierung“ verbietet und den ungehinderten Austausch von elektronischen Gesundheitsinformationen (EHI) vorschreibt.

Anfang September 2025 kündigte das US-Gesundheitsministerium (HHS) eine massive Verschärfung der Durchsetzung dieser seit Jahren bestehenden Regeln an und rief eine „Null-Toleranz-Politik“ aus. Damit bricht die Regierung genau die Barrieren auf, an denen Google und Microsoft gescheitert sind. Dass dies kein Papiertiger ist, zeigt die Statistik: Zwischen April 2021 und August 2025 wurden 1.420 Beschwerden wegen mutmaßlicher Informationsblockierung gemeldet, die meisten davon von Patienten gegen Gesundheitsdienstleister. Dieser regulatorische Druck zwingt die Branche zur Öffnung und schafft die Grundlage für eine neue Generation von Anwendungen, die endlich auf einen reibungslosen Datenfluss zugreifen können.

4. Der Game-Changer: KI, die Gesundheit wirklich versteht

Während die Regulierung die Datentüren aufstößt, liefert die Technologie den Schlüssel, um sie sinnvoll zu nutzen. Die Einführung von fortschrittlichen KI-Modellen wie GPT-5 ist der zweite entscheidende Wendepunkt. Es geht nicht mehr nur darum, Daten zu sammeln, sondern darum, sie in Echtzeit zu verstehen, zusammenzufassen und in verständlicher Sprache zu erklären. Die KI kann das tun, was ein einfacher digitaler Aktenschrank nie konnte: Kontext herstellen und Wissen extrahieren.

Die Anwendungsbeispiele zeigen das enorme Potenzial:

  • Patienten können komplexe medizinische Dokumente wie Biopsieberichte in die KI einfügen und erhalten verständliche Erklärungen, die so zu aktiven Teilnehmern ihrer eigenen Behandlung werden.
  • Ärzte können die KI als „Co-Pilot“ nutzen, der sie bei der Diagnosefindung unterstützt, mögliche Differenzialdiagnosen vorschlägt und sicherstellt, dass keine wichtigen Details übersehen werden.
  • Die Arzneimittelentwicklung wird beschleunigt, indem die KI riesige Mengen an wissenschaftlicher Literatur und klinischen Daten analysiert, wie es in Partnerschaften wie der von Sanofi und OpenAI bereits geschieht.

Diese neue Generation von KI ist nicht nur ein Werkzeug, sondern ein Wissenspartner – eine Art

“PhD-level intelligence in your pocket”

5. Die neue Strategie: Von digitalen Tresoren zu KI-Gesundheitscoaches

Die Lehren aus den alten Misserfolgen und die neuen Möglichkeiten durch Regulierung und KI führen zu einer völlig neuen Strategie. Anstatt den Nutzern nur einen leeren digitalen Tresor zu geben, bieten neue Akteure wie Alphabets Tochtergesellschaft Verily mit ihrer App „Verily Me“ einen proaktiven, personalisierten Dienst an.

Der Fokus liegt nicht mehr auf der passiven Speicherung von Akten, sondern auf der Generierung von umsetzbaren Empfehlungen. Diese neuen Apps kombinieren drei Elemente:

  1. Automatisierter Datenzugriff: Dank der neuen Vorschriften können sie Gesundheitsdaten von verschiedenen Anbietern zusammenführen.
  2. KI-Analyse: Ein KI-Assistent wie „Violet“ von Verily analysiert diese Daten, beantwortet Fragen und identifiziert Versorgungslücken.
  3. Menschliche Expertise: Echte, zugelassene Ärzte überprüfen die Daten und geben personalisierte Gesundheitsempfehlungen.

Dieser Ansatz löst das Kernproblem der alten Modelle: Er bietet den Nutzern einen klaren, greifbaren Mehrwert, anstatt ihnen die Arbeit der Datenverwaltung aufzubürden. Es ist der Wandel von einem reaktiven Werkzeug zu einem proaktiven Gesundheitspartner.

Eine zweite Chance für die digitale Gesundheit?

Das Scheitern von Google Health, Microsoft HealthVault und Amazon Halo war kein Zufall, sondern das Ergebnis eines fundamentalen Missverständnisses der Gesundheitsbranche. Sie zerbrachen an drei zentralen Hürden: der mangelnden Kooperation des Systems, einem fehlenden Mehrwert für die Nutzer und tief sitzenden Vertrauensproblemen. Heute hat sich das Spielfeld in den USA grundlegend gewandelt und zwei mächtige Kräfte adressieren diese alten Fehler direkt. Der regulatorische Druck gegen Informationsblockierung bricht die Datensilos auf und löst das Kooperationsproblem. Gleichzeitig verwandelt eine neue Generation von KI diese Daten in echten, personalisierten Nutzen, indem sie von passiven Aktenschränken zu proaktiven Gesundheitscoaches wechselt und damit die Wert-Lücke schließt.

Diese Konvergenz schafft eine einzigartige Chance, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und das ursprüngliche Versprechen der digitalen Gesundheit doch noch einzulösen. Die Frage ist nicht mehr, ob Technologie eine zentrale Rolle in unserer persönlichen Gesundheitsversorgung spielen wird, sondern wie – und wer die Gewinner dieser neuen Ära sein werden. Das gilt genau so auch für Deutschland. Denn auch die ePA hat mit vergleichbaren Problemen zu kämpfen.

Was lernen wir daraus für die ePA


Das Scheitern der Big-Tech-Giganten liefert eine überraschend klare Lektion für die elektronische Patientenakte (ePA) der gematik: Das reine Versprechen, Gesundheitsdaten digital zu bündeln, reicht nicht aus. Menschen wollen keine digitalen Aktenordner – sie wollen Orientierung, Verstehen und konkrete Hilfe. Die ePA darf also kein statisches Archiv sein, sondern muss sich zu einem aktiven, intelligenten Begleiter im Gesundheitssystem entwickeln. Ihr Erfolg wird nicht an der Menge gespeicherter PDFs gemessen, sondern daran, ob sie Daten in sinnvolle, verständliche Informationen verwandelt. Vertrauen wird dabei zur Währung. Während Google und Amazon an der Skepsis der Nutzer scheiterten, kann die ePA mit staatlicher Verantwortung und europäischem Datenschutz punkten – wenn sie Transparenz nicht nur verspricht, sondern lebt. Gleichzeitig zeigen die US-Erfahrungen, dass Regulierung der entscheidende Hebel ist: Nur wenn Informationsblockierung konsequent verhindert und Interoperabilität technisch wie politisch erzwungen wird, entsteht ein echter Datenfluss. Die ePA steht damit an einem Wendepunkt – sie kann das werden, was Google Health nie war: kein Datentresor, sondern ein digitaler Gesundheitscoach, der dank KI komplexe Informationen versteht, erklärt und in echte Handlungsimpulse übersetzt. Wenn ihr das gelingt, könnte sie das einlösen, woran Big Tech gescheitert ist – das gebrochene Versprechen der digitalen Gesundheit.

Werden KI-gesteuerte Gesundheitsassistenten endlich das Versprechen einlösen, das Big Tech vor einem Jahrzehnt gebrochen hat, oder stehen wir vor einer neuen Art des Scheiterns?

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