Von der ePA zur digitalen Unsterblichkeit | Der Friedhof 2.0 | Dein digitales Erbe: Wer bekommt die Daten?
Heute ist Totensonntag und die Menschen gedenken ihrer verstorbenen Angehörigen …
Vor Kurzem stand ich auf der Bühne einer großen Konferenz zur Zukunft des Gesundheitswesens. Ich sprach über smarte Ökosysteme, KI-gestützte Pflege und die Vision einer vollständig digitalisierten Patientenakte – vom ersten Schrei bis ins hohe Alter. Nach meinem Vortrag kam die übliche Fragerunde. Doch eine Frage traf mich unerwartet und hallt bis heute nach. Eine junge Frau aus dem Publikum fragte schlicht: „Wo endet die digitale Gesundheitsakte? Mit dem Tod oder danach?“
Dieser Moment war sehr spannend für mich. Denn mir wurde schlagartig bewusst, dass wir in unseren Diskussionen über eHealth eine entscheidende Grenze kaum beachten: die Schwelle vom Leben zum Tod. Während wir akribisch daran arbeiten, unser Leben digital zu erfassen, beginnt parallel eine völlig neue Industrie, unser Andenken und unsere Persönlichkeit über den Tod hinaus zu konservieren. Die Frage ist nicht mehr ob, sondern wie wir digital weiterleben. Die ePA ist nur der Anfang einer Reise, deren Endstation die digitale Unsterblichkeit sein könnte.

1. Die nächste Stufe: Wenn KI den Abschied neu definiert
Die Digitalisierung unseres Lebens macht vor dem Tod nicht halt. Sie geht nahtlos über in einen neuen, aufstrebenden Markt, der als „Digital Afterlife Industry“ oder „Grief Technology“ bezeichnet wird. Diese Dienste erstellen sogenannte „Deadbots“ oder „Digitale Zwillinge“, indem sie den riesigen digitalen Fußabdruck, den eine Person im Netz hinterlässt, als Trainingsdaten nutzen. Dieser Trend knüpft an transhumanistische Vorstellungen an, die menschlichen Grenzen durch Technologie zu überwinden und ist eine logische, wenn auch zutiefst kontroverse, Fortsetzung unseres digitalen Daseins.
Ein Fallbeispiel: Der digitale Zwilling
Ein eindringliches Beispiel ist der Fall des unheilbar an Krebs erkrankten Berliners Michael Bommer. Sein Wunsch: auch nach seinem Tod für seine Familie ansprechbar zu sein, Fragen seiner Enkel oder Urenkel zu beantworten. Mithilfe des Start-ups „Eternos“ trainierte er einen digitalen Zwilling von sich, indem er unzählige Fragen zu seinem Leben beantwortete und seine Stimme aufzeichnete. Seine Motivation war es, seiner Frau und Familie das Gefühl zu geben, sie nicht ganz allein zu lassen.
Seine Frau, Annet Bommer, sieht die Technologie mit einer Mischung aus Offenheit und Vorsicht. Für sie hat die Möglichkeit, mit einer KI-Version ihres Mannes zu sprechen, etwas Tröstliches in bestimmten Situationen. Ihre Haltung fasst sie pragmatisch zusammen:
„Wenn ich merke, dass mir die Nutzung nicht gut tut, dann schiebe ich sofort einen Riegel vor.“
Die ethische Dimension: Trost oder Endlosschleife?
Experten wie Jessica Heesen von der Universität Tübingen warnen, dass diese „Deadbots“ den Trauerprozess fundamental verändern, indem sie einen echten Abschluss verhindern. Hinterbliebene könnten dazu verleitet werden, die verstorbene Person weiterhin aktiv am Leben zu beteiligen. Genau hierin liegt die Gefahr, die die Trauerbegleiterin Britta Preuße als „digitale Endlosschleife“ bezeichnet: Anstatt den Schmerz zu integrieren, wird er durch eine Simulation von Beziehung umgangen.
Diese Verletzlichkeit ist es auch, die Annet Bommer, die mit der Technologie lebt, präzise erkennt. Wie Britta Preuße in ihrer Analyse hervorhebt, brachte Bommer selbst die zentrale Gefahr auf den Punkt:
„Der Mensch vor der KI ist die Schwachstelle.“
Die zentrale Frage bleibt: Fördern diese Technologien die Trauerbewältigung, indem sie eine fortwährende Bindung ermöglichen oder verhindern sie einen gesunden Abschied und damit die psychische Gesundheit der Hinterbliebenen?
- https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/ki-kuenstliche-intelligenz-tod-digital-100.html
- https://www.bidt.digital/phaenomene/digitales-weiterleben-eine-ethische-betrachtung-der-digital-afterlife-industrie/
- https://brittapreusse.de/2024/07/05/was-macht-ki-mit-tod-zwischen-sehnsucht-simulation-und-der-frage-was-brauchen-wir-wirklich-in-der-trauer/
Doch das digitale Gedenken manifestiert sich nicht nur in Avataren, sondern findet auch den Weg zurück in die physische Welt – direkt an den Ort der letzten Ruhe.

2. Der Friedhof 2.0: Zwischen QR-Code und E-Ink-Grabstein 묘
Die traditionelle Bestattungskultur befindet sich im Wandel. Dieser ist auch eine bewusste Abkehr von der „ausdruckslosen Massenware industrieller Fertigung“, die laut Pionieren wie einer Kölner Steinmetzwerkstätte heute das Bild vieler Friedhöfe prägt. Der Wunsch nach Individualisierung und die allgegenwärtigen Möglichkeiten des mobilen Internets treiben die Entwicklung digitaler Grabmale voran.
Vom Stein zum Link
Die einfachste und bereits etablierte Form ist die Verknüpfung des physischen Grabsteins mit digitalen Inhalten. Pioniere wie eine Kölner Steinmetzwerkstätte haben bereits 2012 begonnen, Grabsteine mit QR-Codes zu versehen. Ein Scan mit dem Smartphone führt Besucher auf eine Online-Gedenkseite, auf der Bilder, Videos oder Texte aus dem Leben des Verstorbenen geteilt werden können. Um die Langlebigkeit der Verlinkung in einer sich schnell wandelnden digitalen Welt zu sichern, setzen solche Anbieter auf „dynamische Codes“, deren Ziel-URL auch Jahre später noch aktualisiert werden kann.
Der sprechende Stein der Zukunft
Eine fortschrittlichere Vision ist der „Digitale Grabstein“, der einen Flachbildschirm direkt in das Grabmal integriert. Der erste Prototyp namens „Digizerk“ wurde bereits 2007 vom Niederländer Hendrik Rozema vorgestellt. Er konnte Bilder und Texte anzeigen, um Geschichten aus dem Leben des Verstorbenen zu erzählen.
Die technischen Herausforderungen – Witterung, Vandalismus und vor allem die Stromversorgung – sind erheblich. Hier zeigt sich der technologische Fortschritt:
- LCD-Displays, wie wir sie von Fernsehern oder Smartphones kennen, sind für diesen Zweck ungeeignet. Sie benötigen eine konstante Stromversorgung, und ihre reflektierende Oberfläche macht sie bei direkter Sonneneinstrahlung kaum lesbar.
- E-Ink-Displays, bekannt von E-Book-Readern, sind hier die weitaus bessere Wahl. Sie haben zwei entscheidende Vorteile:Hervorragende Lesbarkeit bei Tageslicht: Sie reflektieren das Umgebungslicht wie bedrucktes Papier und bieten einen gestochen scharfen Kontrast, selbst bei direkter Sonne.Extrem geringer Stromverbrauch: Energie wird nur beim Wechsel des Bildes benötigt. Ein einmal angezeigtes Bild bleibt ohne weiteren Stromverbrauch sichtbar.
Diese Technologie, kombiniert mit einer kleinen Solarzelle und einem Akku, macht den interaktiven Grabstein technisch realisierbar.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Digitaler_Grabstein
- http://www.digitale-grabsteine.de/
- https://www.roadads.de/e-ink-vs-lcd-displays-die-vor-und-nachteile-von-beiden-technologien/
Wenn bereits ein Grabstein eine digitale Schnittstelle besitzt, was bedeutet das dann für das riesige Universum an Daten, Verträgen und Werten, das ein Mensch zu Lebzeiten anhäuft?
3. Das ungelöste Erbe: Wem gehört unser digitaler Geist? ⚖️
Jeder von uns hinterlässt einen „digitalen Nachlass“ – eine komplexe Sammlung aus Daten, Rechten und Vermögenswerten, deren Bedeutung stetig wächst. Dabei geht es längst nicht mehr nur um Social-Media-Profile. Es geht um E-Mail-Postfächer, Cloud-Speicher mit persönlichen Fotos, Online-Abonnements, Guthaben bei Zahlungsdiensten wie PayPal, Kryptowährungen und wertvolle Lizenzen für Software, E-Books oder Musik.
Die Rechtslage: Klar im Prinzip, kompliziert in der Praxis
In Deutschland ist die rechtliche Grundlage eindeutig. Nach dem Prinzip der Gesamtrechtsnachfolge (§ 1922 BGB) geht der gesamte Nachlass einer Person, einschließlich des digitalen Anteils, auf die Erben über. Ein wegweisendes Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 12. Juli 2018 (Az. III ZR 183/17) zementierte diesen Grundsatz. Die Richter entschieden, dass die Erben eines verstorbenen Mädchens Zugang zu ihrem Facebook-Konto erhalten müssen und stellten digitale Inhalte damit auf eine Stufe mit analogen Briefen und Tagebüchern.
Die praktischen Hürden
Trotz der klaren Rechtslage stoßen Erben in der Praxis auf massive Hindernisse. Viele Anbieter haben in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) Klauseln verankert, die eine Übertragbarkeit von Nutzerkonten ausschließen. Um ihre Rechte durchzusetzen, müssen Erben oft einen langwierigen und mühsamen Prozess durchlaufen, bei dem sie ihre Erbenstellung mit Dokumenten wie einem Erbschein nachweisen müssen – nicht selten gegenüber einem international agierenden Konzern mit Sitz im Ausland.
Das Learning: Proaktive Vorsorge ist unerlässlich
Die Diskrepanz zwischen Recht und Praxis macht eines unmissverständlich klar: Wer sicherstellen will, dass seine Erben den digitalen Nachlass regeln können, muss zu Lebzeiten selbst aktiv werden. Eine von Fraunhofer SIT durchgeführte Studie zum digitalen Nachlass empfiehlt dringend, entsprechende Vorkehrungen zu treffen.
Ihre konkrete Handlungsempfehlung: Erstellen Sie eine Liste Ihrer wichtigsten Online-Konten und Zugangsdaten. Bewahren Sie diese sicher auf, zum Beispiel in einem verschlüsselten Passwort-Manager wie KeePass auf einem USB-Stick und machen Sie diese einer absoluten Vertrauensperson zugänglich. Ohne eine solche Vorsorge ist die Ermittlung und Sicherung digitaler Vermögenswerte für Erben extrem schwierig oder sogar unmöglich.
- https://www.mtrlegal.com/rechtsanwalt-legal-lexikon/erbrecht/digitaler-nachlass.html
- https://www.sit.fraunhofer.de/fileadmin/dokumente/studien_und_technical_reports/DigitalerNachlass-Zusammenfassung-web-FraunhoferSIT.pdf
Deine Meinung ist gefragt!
Wir stehen an einem faszinierenden, aber auch beunruhigenden Punkt. Die Technologien für eine Form der digitalen Unsterblichkeit sind bereits verfügbar und entwickeln sich rasant weiter. Gleichzeitig hinken die menschlichen, ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen hinterher. Wir schaffen faszinierende Möglichkeiten des Gedenkens, riskieren aber, Trauerprozesse zu stören und hinterlassen ein digitales Erbe, dessen Verwaltung für unsere Liebsten zur Belastung werden kann.
Die Technologie für eine Form der digitalen Unsterblichkeit ist da. Aber sind wir als Gesellschaft bereit dafür? Was meint ihr: Überwiegen die Chancen des digitalen Gedenkens oder die Risiken für den Trauerprozess und den Datenschutz?
Schreibt mir eure Gedanken in die Kommentare!