Omas neue Akte, Roboter ans Bett & warum wir das Pflegesystem jetzt hacken müssen!
Vor ein paar Tagen saß ich im Aufenthaltsraum einer Klinik und kam mit einer Pflegefachkraft ins Gespräch. Sie erzählte mit leuchtenden Augen von ihrer Arbeit, von den Patienten, deren Genesung sie jeden Tag begleiten darf. Fünf Minuten später sah ich sie dabei, wie sie mit einer Kladde in der Hand versuchte, handschriftliche Notizen zu überfliegen und Informationen zu finden. Ein Bild, das den deutschen Pflegenotstand für mich perfekt zusammenfasst: Unglaubliches menschliches Engagement, das von veralteten, analogen Prozessen systematisch ausgebremst wird.
Diese Begegnung hat mich nicht mehr losgelassen. Als Unternehmer im Bereich Digital Health sehe ich täglich, was technologisch möglich wäre. Doch in der Realität kämpfen wir an drei Fronten gleichzeitig: Wir haben eine elektronische Patientenakte (ePA), die in der Pflege niemand nutzt. Wir haben hochqualifizierte Fachkräfte, die Betten putzen, statt Menschen zu versorgen. Und wir haben ein „Betriebssystem“ im Gesundheitswesen, das so kaputt ist, dass selbst die besten digitalen „Apps“ darauf abstürzen müssen. Es ist Zeit, dieses System nicht nur zu reformieren, sondern es zu hacken.

💻 Die digitale Patientenakte: Versprechen trifft auf harte Realität
Für einen Unternehmer mit Pflege-Background ist die elektronische Patientenakte (ePA) in der Pflege ein klassischer Fall von „Product-Market-Fit-Failure“. Wir haben ein potenziell bahnbrechendes Produkt, das aber auf einen unvorbereiteten, fragmentierten Markt ohne die nötige Infrastruktur trifft. Das ist kein Technologieproblem, das ist ein Systemversagen. Dabei ist die strategische Bedeutung der ePA für ein vernetztes, sicheres Gesundheitswesen unbestritten. Technologisch gibt es auch erste Lichtblicke: Mit Connext Vivendi hat der erste Softwareanbieter eine Schnittstelle geschaffen, mit der z.B. Pflegefachkräfte Medikationsdaten direkt aus der ePA abrufen können.
Doch blickt man auf die Zahlen, verfliegt die Euphorie. Während die ePA offiziell am 15. Januar 2025 für alle gesetzlich Versicherten eingeführt wurde, zeigt die Praxis seit dem breiten Rollout am 1. Oktober 2025 ein ernüchterndes Bild:
- Geringe Nutzung: Während über 55.000 Ärzte die ePA bereits nutzen, waren es bei den Pflegeeinrichtungen durchschnittlich nur sieben pro Woche. Das ist kein Start, das ist eine Arbeitsverweigerung des Systems.
- Fehlende Infrastruktur: Nur etwa 25 % der Pflegeeinrichtungen sind überhaupt an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen. Komplexe Anträge und überlastete Dienstleister sorgen für einen digitalen Stau, bevor es überhaupt losgeht.
- Menschliche Hürden: Viele ältere Menschen besitzen kein Smartphone oder haben nicht die digitalen Kenntnisse, um die ePA-App selbst zu verwalten. Sie sind auf Vertreter oder ehrenamtliche Initiativen wie die „ePA-Coaches“ in Rheinland-Pfalz angewiesen.
- Sicherheitsbedenken: Experten wie Dr. Uwe Popert und der Chaos Computer Club warnen zudem vor Sicherheitslücken und Datenschutzrisiken, die das Vertrauen in die zentrale Speicherung sensibelster Gesundheitsdaten untergraben.
Die ePA ist potenziell ein mächtiges Werkzeug. Doch ohne flächendeckenden Anschluss, Nutzerfreundlichkeit und Vertrauen bleibt sie nur eine digitale Fata Morgana. Doch selbst wenn die ePA morgen perfekt funktionieren würde, bliebe sie wahrscheinlich ein unberührter Schrank. Denn das digitale Fundament ist wertlos, wenn wir unser wertvollstes „Asset“ – die hochqualifizierte Pflegefachkraft – gleichzeitig mit analogen Service-Aufgaben verbrennen. Die vermeintliche Technologiekrise ist in Wahrheit eine Personalkrise.

🧑⚕️ Menschen statt Maschinen-Arbeit: Der absurde Alltag unserer Pflegefachkräfte
Unsere Fachkräfte sind das wertvollste Gut im Gesundheitswesen. Ihre Zeit und Kompetenz entscheiden über die Qualität. Umso absurder ist es, wie wir diese Ressource verschwenden. Wegen einer Änderung im Pflegebudget müssen hochqualifizierte Pflegefachkräfte in Krankenhäusern plötzlich wieder fachfremde Serviceaufgaben übernehmen: Betten reinigen, Essen austeilen, Patiententransporte durchführen. Betriebsräte bei den Helios-Kliniken und die Gewerkschaft ver.di nennen dies ein „Stück aus dem Tollhaus“ – und sie haben vollkommen recht.
Stellen Sie sich das Gegenteil vor: Eine Pflegefachkraft, deren Weg durch eine KI-gestützte Logistik optimiert wird. Ein Roboter, der das Bett nach der Entlassung desinfiziert und neu bezieht. Eine KI, die aus der Dokumentation automatisch den Pflegebericht generiert. Das ist keine Science-Fiction, das ist heute technisch machbar. Wir berauben uns dieser Produktivitätsgewinne, weil unser System an veralteten Budget-Regeln festhält.
Dieses Muster wiederholt sich: Der neue Hebammenhilfevertrag führt zu massiven finanziellen Einbußen bei freiberuflichen Hebammen. Das Ergebnis: 44 % erwägen einen Berufsausstieg, eine Petition zählt über 111.000 Unterschriften. Die Situation in Rottweil ist daher mehr als ein Alarmsignal – sie ist ein Fanal für das ganze Land. Wenn ein komplettes Beleghebammen-Team kündigt, dann bricht nicht einfach eine Abteilung weg. Dann bricht ein System weg, das wir jahrzehntelang überlastet, unterfinanziert und ignoriert haben. Und die eigentliche Gefahr ist: Dieses Beispiel könnte Schule machen. Wenn Hebammen gehen, werden andere folgen – freiberufliche Teams, Geburtshilfen, am Ende ganze Pflegeteams, die nicht länger bereit sind, ein kaputtes System mit ihrer eigenen Gesundheit zu tragen. Was hier passiert, ist kein lokales Problem, sondern die logische Konsequenz einer Politik, die sichere Geburtshilfe dem Rotstift opfert. Wenn wir jetzt nicht radikal umdenken, wird es bald nicht mehr um Optimierung gehen – sondern um das nackte Aufrechterhalten der Versorgung.
Wir müssen das System hier hacken: Indem wir KI und Robotik als „moderne Dampfmaschinen“ nutzen, um wertlose Routinearbeit aus dem System zu drängen und den Fokus zurück auf den Menschen zu lenken. Dass wir es nicht tun, ist nur ein Symptom eines tieferliegenden Defekts in der DNA unseres Gesundheitssystems.

⚙️ Das „Betriebssystem“ ist kaputt: Warum Gesetze und Daten nicht zueinander finden
Ich nenne es auch gerne das „Betriebssystem“ des Gesundheitswesens – die Gesetze, Datenstandards und Prozesse, auf denen alle digitalen Anwendungen laufen müssen. Und ich bin nicht allein: Selbst große Träger wie die AWO sprechen davon, ihr „Betriebssystem aktualisieren“ zu müssen, um digitale Anwendungen überhaupt nutzen zu können. Genau hier liegt der Kern des Problems: Unser Betriebssystem ist veraltet, voller Bugs und inkompatibler Schnittstellen.
Ein perfektes Beispiel ist das aktuelle „Gesetz zur Befugniserweiterung in der Pflege (BEEP)“. Im Kern gut gemeint, stärkt es die Eigenverantwortung von Pflegefachpersonen. Doch gleichzeitig, so kritisiert der Verband der Ersatzkassen (vdek), schafft es wieder, z.B. mit den sogenannten gemeinschaftlichen Wohn- und Versorgungsformen „GeWos“ wieder neue Bürokratie, anstatt bestehende Strukturen effizient zu nutzen.
Das Grundproblem liegt aber noch tiefer: in der fehlenden Datenharmonisierung. Pflegedaten werden in stationären, ambulanten und klinischen Sektoren unterschiedlich erfasst und sind nicht kompatibel. Projekte wie PFLIP oder das PIO „ePflegeüberleitung“ versuchen, dieses Chaos zu ordnen und einen einheitlichen „Pflege-Kerndatensatz“ zu definieren. Verbände wie der bvitg und der Deutsche Pflegerat fordern zu Recht, dass dabei endlich internationale Standards genutzt werden. Denn ohne Interoperabilität bleiben KI und datengestützte Versorgung Science-Fiction. Wir können noch so viele Milliarden in Digitalisierung stecken: Wenn das Fundament fehlt, bauen wir auf Sand.
Ausblick: Raus aus dem Gesundheits-Friedhof! 🚀
Fassen wir zusammen: Wir haben eine mangelhafte technische Infrastruktur, eine dramatische Fehlallokation von Personal und ein kaputtes Daten-Betriebssystem. Die Krise der Digitalisierung in der Pflege ist kein technisches, sondern ein systemisches Problem. Wir laufen Gefahr, exakt die Fehler zu wiederholen, die schon die Gesundheits-Apps von Google und Microsoft auf den „Gesundheits-Friedhof“ der Tech-Projekte befördert haben. Sie scheiterten an fehlender Kooperation des Systems und einem mangelnden Mehrwert für die Nutzer.
Deutschland fokussiert sich auf das Werkzeug – den digitalen Aktenschrank namens ePA –, anstatt auf den Nutzen, den KI aus den Daten ziehen könnte. Der wahre Game-Changer ist nicht die Akte selbst, sondern der KI-gestützte Coach, der Prozesse optimiert und Pflegefachkräfte von Routinen befreit.
Die Technologien sind da. Das eRezept z.B. zeigt bereits einen wahren Nutzen. Die Daten sind (bald) verfügbar. Was wir jetzt brauchen, sind keine weiteren Pilotprojekte, sondern konsequente Gesundheitspolitik, radikale Implementierer und mutige System-Hacker, die bereit sind, die verkrusteten Strukturen aufzubrechen und ein Betriebssystem für das 21. Jahrhundert zu installieren.
Was ist Ihrer Meinung nach der größte Hebel, um die Digitalisierung in der Pflege endlich zu beschleunigen: bessere Gesetze, mehr Geld für Technik oder eine radikale Entbürokratisierung der Prozesse? Schreiben Sie es in die Kommentare!
Quellen:
– https://www.altenheim.net/kaum-eine-pflegeeinrichtung-nutzt-die-elektronische-patientenakte/
– https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-pflege-protest-helios-kliniken-li.3337040
– https://digital.awo.org/wp-content/uploads/2023/10/Themenpapier-Wohfalhrt-und-Daten-2-Impulse-für-die-Pflege.pdf#:~:text=ren%20für%20das%20datenbasierte%20Arbeiten,Themenpapier%20ist%20deshalb%20als%20Startrampe
– https://www.connext.de/pdf/Connext-bringt-ePA-in-die-Pflege.pdf#:~:text=mit%20der%20Version%2025,ePA%20–%20komfortabel%2C%20datensicher%20und
– https://www.pflegewegweiser-nrw.de/frage-des-monats-januar-25#:~:text=Die%20ePA,kann%20Unterstützung%20von%20Dritten%20bekommen
– https://www.haeusliche-pflege.net/rheinland-pfalz-setzt-auf-epa-coaches-zur-unterstuetzung-aelterer-menschen/#:~:text=Rheinland,Unterstützung%20älterer%20Menschen
– https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ccc-noch-nicht-zufrieden-mit-epa-sicherheit-159240/
– https://www.aerzteblatt.de/news/fachgesellschaft-bewertet-neuen-hebammenhilfevertrag-kritisch-0d714e4c-d870-4bb7-9f14-2234161b04d5
– https://www.altenheim.net/ersatzkassen-kritisieren-geplante-pflegereform-als-halbherzig/#:~:text=Kritik%20äußert%20der%20vdek%20auch,Pflegebedürftigen%20wenig%20attraktiv“%2C%20so%20Elsner
– https://pflip-pflegedaten.de/#:~:text=Die%20Erschließung%2C%20Harmonisierung%2C%20Integration%20und,organisatorisch%20und%20technisch%20erschlossen%20werden
– https://www.bvitg.de/themen/interoperabilitaet/#:~:text=Position%20des%20bvitg%20zu%20Interoperabilität
– https://deutscher-pflegerat.de/wp-content/uploads/2021/06/2021-06-16_bvitg_DPR_HSOS_PKSH_BPK_DP-Interoperabilität-Pflege.pdf#:~:text=2,einen%20tatsächlichen%20Mehrwert%20für%20die