Historische Entwicklung der Pflegeinformatik
Von der Simulation zum digitalen Pflegeprozess: Die historische Reise der Pflegeinformatik
Einleitung: Mehr als nur Bits und Bytes in der Pflege
In den Gängen moderner Pflegeeinrichtungen ist das Tippen auf Tastaturen und das Scannen von Barcodes ebenso allgegenwärtig geworden wie das Stethoskop – ein klares Zeichen, dass die Digitalisierung das Herz der pflegerischen Versorgung erreicht hat. Im Zentrum dieser Transformation steht die Pflegeinformatik, ein Fachgebiet, das weit mehr umfasst als nur den Einsatz von Computern in der Pflege. Es ist die Integration von Pflegewissenschaft, Informationswissenschaft und Informatik zur Verwaltung und Kommunikation von Daten, Informationen, Wissen und Weisheit in der Pflegepraxis. Dieser Artikel zeichnet die historische Entwicklung der Pflegeinformatik nach – von ihren globalen Anfängen bis zur spezifischen Situation und den aktuellen Herausforderungen in Deutschland.
1. Die Pionierphase: Globale Anfänge in Nordamerika (1960er – 1980er)
Die Wurzeln der Pflegeinformatik liegen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die ersten Pioniere das Potenzial der damals neuen Computertechnologie für die Pflege entdeckten.
Die 1960er: Erste Schritte in der Ausbildung
Die ersten Computeranwendungen in der Pflege entstanden nicht in der Praxis am Patientenbett, sondern im Bereich der Ausbildung. Dies hatte einen pragmatischen Grund: Simulationsprogramme boten eine risikoarme Möglichkeit, das Potenzial der Rechentechnik in einer kontrollierten Umgebung zu erproben, lange bevor eine solche Technologie in der direkten Patientenversorgung als verlässlich galt. Als wegweisend gilt die Arbeit von Maryann Drost Bitzer, die in den frühen 1960er Jahren eines der ersten Simulationsprogramme für die geburtshilfliche Pflegeausbildung entwickelte. Damit konnte sie beweisen, dass Computer Lehr- und Lernprozesse in der Pflege effizient unterstützen können, indem sie komplexe Szenarien für Auszubildende erlebbar machten.
Die 1970er: Lernsoftware und administrative Versuche
Aufbauend auf diesen ersten Erfolgen kamen in den 1970er Jahren weitere Lernprogramme hinzu. Gleichzeitig gab es erste Versuche, die elektronische Datenverarbeitung (EDV) auch für administrative Aufgaben in der Pflege zu nutzen. Diese Entwicklungen konzentrierten sich zunächst auf Nordamerika. Hier leistete Judith Ronald wichtige Arbeit, indem sie gezielt daran arbeitete, das Pflegepersonal mit Computern und relevanter Software vertraut zu machen und so die Akzeptanz für die neue Technologie zu fördern.
Die 1980er: Der PC als Katalysator und die Geburt eines Fachgebiets
In diesem Jahrzehnt wurde der Begriff „Pflegeinformatik“ eingeführt, was die zunehmende Etablierung als eigenständiges Fachgebiet markierte. Ein entscheidender technologischer Katalysator war die Einführung des Personal Computers (PC), der die EDV zugänglicher und erschwinglicher machte. In der Folge breiteten sich EDV-gestützte Dokumentationssysteme langsam in der stationären und ambulanten Pflege aus, oft nach dem Vorbild US-amerikanischer Entwicklungen.
2. Standardisierung und Internationalisierung (1990er)
In den 1990er Jahren weitete sich der Trend der EDV-gestützten Pflege auch nach Europa aus. Mit der zunehmenden Verbreitung von IT-Systemen trat jedoch ein kritisches Problem zutage: Während in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen isolierte IT-Systeme entstanden, schufen sie digitale „Inseln“ an Daten. Informationen konnten nicht geteilt, verglichen oder zusammengeführt werden, was ihren Wert für Forschung, Qualitätsmanagement und sogar die Versorgungskontinuität stark einschränkte. Diese Herausforderung der „Datensilos“ machte die Entwicklung internationaler Standards nicht nur zu einem technischen Ziel, sondern zur Grundvoraussetzung für den Fortschritt des gesamten Fachgebiets. Internationale Gremien wie die International Medical Informatics Association (IMIA) trieben diese Entwicklung stark voran, um eine gemeinsame Basis für Forschung und Praxis zu schaffen.
3. Sonderweg Deutschland: Die Akademisierung als Fundament
Die Entwicklung in Deutschland verlief zwar parallel zu den globalen Trends, war jedoch stark von einem besonderen Faktor geprägt: der Akademisierung der Pflegewissenschaft. Diese schuf die wissenschaftliche Basis, die der Pflegeinformatik hierzulande ihre inhaltliche Richtung und ihren fachlichen Auftrag gab.
Die Akademisierung der Pflegewissenschaft
Seit den 1980er Jahren machte die Pflegewissenschaft in Deutschland bedeutende Fortschritte, beginnend mit den Aktivitäten einzelner Pionierinnen unter dem Dach des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK). Die 1990er Jahre wurden zur entscheidenden Phase, in der akademische Strukturen systematisch aufgebaut wurden. Erst diese neue akademische Disziplin lieferte das theoretische Fundament und die Fachexperten, um zu definieren, was aussagekräftige Pflegedaten sind, und gab der Pflegeinformatik damit ihren wissenschaftlichen Auftrag. Eine wirkmächtige Rolle spielte dabei die Robert Bosch Stiftung mit ihrer richtungsweisenden Schrift „Pflege braucht Eliten“ aus dem Jahr 1992, die der Akademisierung der Pflegebildung einen entscheidenden Impuls gab.
Die Institutionalisierung der Pflegeinformatik
Parallel zur wissenschaftlichen Fundierung der Pflege institutionalisierte sich auch die Pflegeinformatik in Deutschland. Ein zentrales Gremium ist hier die Arbeitsgruppe (AG) „Informationsverarbeitung in der Pflege“ der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS). Ihr Hauptziel ist die Unterstützung der Kommunikation zwischen Anwendern, Herstellern und Wissenschaftlern. Die AG engagierte sich maßgeblich an der Entwicklung von Lernzielkatalogen und den DACH-Empfehlungen, die Kernkompetenzen in der Pflegeinformatik für Deutschland, Österreich und die Schweiz definieren. Darüber hinaus stellt die AG durch ihre Vertretung in internationalen Gremien wie der European Federation of Medical Informatics (EFMI) und der International Medical Informatics Association (IMIA) den Anschluss an die globale Entwicklung sicher.
4. Die Moderne Ära und die aktuelle Situation in Deutschland (ab 2000)
Seit der Jahrtausendwende konzentrieren sich die globalen Entwicklungsschwerpunkte auf elektronische Akten, mobile Anwendungen und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI). Während sich der globale Diskurs fortschrittlichen Anwendungen wie KI zuwandte, erkannte Deutschland, dass es zunächst eine grundlegendere Herausforderung lösen musste: den Aufbau der Basis-Dateninfrastruktur, die solche fortschrittlichen Werkzeuge überhaupt erst sinnvoll und möglich macht.
Die Pflege-Informatik-Initiative (PII): Deutschlands Ruf nach Daten
Der Deutsche Pflegerat (DPR) identifizierte ein Kernproblem: Obwohl die Pflege die größte Berufsgruppe im deutschen Gesundheitswesen darstellt, fehlen valide und interoperable Pflegedaten, um Qualität, Versorgung und politische Entscheidungen wirksam zu steuern.
Als Antwort darauf wurde die Pflege-Informatik-Initiative (PII) ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist es, pflegerische Daten für primäre Zwecke (Versorgung und Steuerung) und sekundäre Zwecke (Forschung, Public Health, Qualitätspolitik) gleichwertig nutzbar zu machen.
Thomas Meißner, Leiter der DPR-Fachkommission Digitalisierung in der Pflege, fasst die Vision zusammen:
„Die PII ist kein technisches Projekt, sondern ein gesellschaftlicher Auftrag. Wenn die Pflege in eigenen Datenräumen und Forschungsstrukturen abgebildet wird, kann sie die Zukunft des Gesundheitssystems aktiv mitgestalten.“
Um dieses Ziel zu erreichen, formulierte die PII einen klaren „Call to Action“ mit folgenden Kernforderungen:
- Politische Beschlüsse für Fördermittel und rechtliche Grundlagen.
- Ein abgestimmter Fahrplan mit Bund, Ländern und Hochschulen sowie Pilotprojekte.
- Finanzielle Anreize für Einrichtungen, die konforme Qualitätsdaten liefern.
- Aufnahme pflegespezifischer Datenstandards in die Spezifikationen der gematik.
Ein konkretes Beispiel für den Fortschritt in Deutschland ist die Entwicklung des „PIO Überleitungsbogen“. Dieses Pflegerische Informationsobjekt (PIO) für einen pflegerischen Überleitungsbericht wurde unter Mitwirkung von Mitgliedern der GMDS-Arbeitsgruppe erarbeitet und wird als Teil der elektronischen Patientenakte zum 01.01.2025 in Kraft treten.
5. Die Bedeutung einer einheitlichen Fachsprache
Der Ruf der Pflege-Informatik-Initiative nach strukturierten und interoperablen Daten macht eine standardisierte Pflegesprache unumgänglich. Sie ist das Fundament, auf dem vergleichbare und auswertbare Datenräume erst entstehen können. Nur wenn alle dieselbe Sprache sprechen, werden Daten für Forschung und Qualitätssteuerung nutzbar. Ein bekanntes Zitat bringt diese Notwendigkeit auf den Punkt: „If we cannot name it, we cannot control it, practice it, teach it, finance it, or put it into public policy”.
Ein zentrales Konzept ist hierbei der einheitliche Leistungskatalog. Verschiedene Formulierungen für dieselbe Handlung, wie „Katheter setzen“, „Legen eines Blasenkatheters“ oder „Katheterisieren“, werden in einem zentralen Katalog einem eindeutigen Begriff (z.B. BVWK setzen) zugeordnet. Dies stellt sicher, dass Daten systemübergreifend korrekt interpretiert werden.
In der Entwicklung der einheitlichen Pflegesprache haben sich international drei zentrale Klassifikationssysteme etabliert, die den Pflegeprozess abbilden:
| NANDA -> Pflegediagnosen | NIC -> Pflegeinterventionen | NOC -> Pflegeergebnisse |
| Bereiche: 13 | Bereiche: 7 | Bereiche: 7 |
| Klassen: 46 | Klassen: 30 | Klassen: 30 |
| Diagnosen: 188 | Interventionen: 542 | Ergebnisse: 330 |
Diese Systeme bieten eine strukturierte Terminologie zur Beschreibung von Patientenzuständen, pflegerischen Maßnahmen und den daraus resultierenden Ergebnissen.
Ausblick: Die Zukunft ist kompetent und interdisziplinär
Die historische Reise der Pflegeinformatik zeigt eine Entwicklung von einfachen Lehrprogrammen hin zu komplexen, vernetzten Systemen, die auf einer einheitlichen Fachsprache basieren und die Grundlage für datengestützte Entscheidungen schaffen. Die Zukunft dieses Fachgebiets liegt jedoch nicht allein in der Technologie, sondern maßgeblich in den Kompetenzen der Pflegenden, die diese Systeme anwenden, gestalten und weiterentwickeln. Zu den Kernkompetenzen für die Zukunft gehören:
- Datenkompetenz (Data Literacy): Die Fähigkeit, Daten zu lesen und zu interpretieren, ist die moderne Entsprechung der klassischen pflegerischen Beobachtungsgabe – eine Kernkompetenz, die nun auf die digitale Welt angewendet wird.
- Technologische Kompetenz: Von der Bedienung einfacher Simulationen in den 1960ern bis zur Mitgestaltung komplexer KI-Systeme heute – die technologische Souveränität bleibt die Grundlage für die aktive Nutzung und Gestaltung der Werkzeuge.
- Kritisches Denken: Die Fähigkeit, Systeme und Daten nicht nur anzuwenden, sondern auch kritisch zu hinterfragen, um die Qualität der Versorgung und die ethischen Implikationen im Blick zu behalten.
- Projektmanagement: Die Einführung und Optimierung digitaler Lösungen erfordert strukturierte Planung und Steuerung, Fähigkeiten, die Pflegende zunehmend in ihre Praxis integrieren.
- Interprofessionelle Zusammenarbeit: Wie die Arbeit in Gremien wie der GMDS und IMIA zeigt, entsteht Fortschritt nicht im Silo. Die Fähigkeit, mit IT-Experten, Ärzten und Management auf Augenhöhe zu kommunizieren, ist entscheidend.
- Lebenslanges Lernen: In einem sich rasant entwickelnden Feld ist die Bereitschaft zur kontinuierlichen Weiterbildung der Schlüssel zur Anpassung an neue Technologien und Methoden.
So schließt sich der Kreis: Was mit einfachen Lehrprogrammen zur besseren Ausbildung Einzelner begann, mündet heute in die Kompetenz, durch vernetzte Daten das gesamte Gesundheitssystem aktiv, evidenzbasiert und patientenzentriert für alle mitzugestalten.